Vertonungen der katholischen Eucharistiefeier und romantischer Lyrik von William Blake in der populären Musik seit den Sechzigerjahren
- hugo2825
- 18 giu
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Die Themen in der populären Pop-und Rockmusik seit ihren Anfängen in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts sind in erster Linie die vielen Aspekte der Liebe in ihren Sonn-und Schattenseiten und, etwas weniger häufig, die Alltagspolitik. Letztere wird oft etwas plakativ simplizistisch aus kritischer, meist bewusst linker oder rechter Perspektive besungen, mit dem Zweck, die Massen zu bewegen. Je direkter die alltagspolitischen Inhalte sind, je schneller drohen die betreffenden Musikstücke allerdings zu Antiquitäten zu werden, die bald einmal nicht mehr gefragt sind. Überzeitliche Thematiken stellen in der Regel erhöhte künstlerische Ansprüche, und sie erweisen sich dafür als dankbarer, weil sie überlebensfähiger sind. Beispiele dieser Kategorie gibt es in der populären Musik von Pop und Rock der letzten rund achtzig Jahre nicht allzu viele, aber es gibt sie. Gelegentliche neue Auflagen solcher Aufnahmen in kleinen Stückzahlen deuten darauf hin, dass sie nur von wenigen gepflegt werden und sie ein klassische Nischendasein fristen, aus dem sie nicht herausfinden. Aber dennoch, und das ist erfreulich: Ganz vergessen sind sie auch etliche Jahrzehnte nach ihrer Erstveröffentlichung nicht, und sie können mit Gewinn neu entdeckt werden.
Dazu gehören zwei Vertonungen der katholischen Eucharistiefeier, die Mass in F Minor aus dem Jahre 1967 der US-Amerikaner Electric Prunes und Ceremony der Briten Spooky Tooth zwei Jahre danach. Beide Werke dürfen als Curiosa gelten. Alleine die Idee, die katholische Eucharistie in einem rock- und popmusikalischen Rahmen umzusetzen, darf als mutig bezeichnet werden. Und selbstredend sind beide Werke auch nur vor dem Hintergrund des kreativen, oft geradezu waghalsigen und provokativen Zeitgeistes der Sechzigerjahre zu verstehen. In Konzept und Form wären sie heute kaum mehr denkbar.

Die Mass in F Minor der Electric Prunes aus Seattle und nachher in San Francisco ist im besagten Sinne eine Rarität. Die Aufnahme fällt auch aus dem Gesamtwerk der besagten Combo. Alle ihre anderen von 1967 bis 1969 veröffentlichten Werke klingen nämlich experimentell psychedelisch, sind getragen von verzerrten Gitarrenklängen, heissen beispielsweise „Underground“ und sind damit typische Artefakte ihrer Zeit. Nicht so ihre Vertonung der Liturgie, die auf laute Töne verzichtet, sparsam instrumentiert und geradezu elegisch konzipiert ist. Die Solennität der Aufnahme würde in einer Kirche optimal zur Wirkung kommen. Es erstaunt deswegen nicht, dass sich sogar der Vatikan zu diesem Werk wohlwollend geäussert haben soll.
Sowohl die Electric Prunes als auch Spooky Tooth folgen im Grundsatz, wenn auch mit Variationen, dem Ablauf des katholischen Ritus: Einzug und Begrüssung, Kyrie, Gloria/Gebet, Lesung, Evangelium, Glaubensbekenntnis Pater Noster, Fürbitte, Gabenbereitung, Hochgebet, Kommunion, und abschliessend die Entlassung aus dem Ritus. Und was die Mass in F Minor nochmals aussergewöhnlich, so sehr speziell macht: Sie ist, und das ist geradezu unglaublich, in lateinischer und griechischer Sprache gehalten, was das profund Sakrale, das von ihr ausgeht, und das aufmerksam Zuhörende hineinzieht, miterklärt.
Die Messe fällt aus dem gewohnten musikalischen Gesamtrahmen der Electric Prunes heraus. Bei Lichte besehen ist sie tatsächlich das Opus des US-Amerikaners David Axelrod. Er komponierte das Werk und nutzte die Band - oder einzelne Mitglieder derselben, wie auf Umschlägen der Aufnahme zu entnehmen ist - für die Umsetzung. Die Intensität dieses exzentrischen, sakralen Werkes muss die Combo offensichtlich zutiefst erschüttert, überfordert haben, denn sie fiel darauf auseinander. Axelrod (1931 bis 2017) war ein vielseitiger Komponist, Produzent und Arrangeur für andere namhafte Künstler, insbesondere aus dem Bereich des US-amerikanischen Jazz der Fünfziger- bis Siebzigerjahre. Selbst hielt er sich aber diskret und bescheiden im Hintergrund, und er war einem breiten Publikum namentlich kaum bekannt. Mit dem vertrauten Bandnamen versprach er sich wahrscheinlich eine bessere Vermarktung seines ausgefallenen Oevres. Diese Hoffnung erfüllte sich aber in keiner Weise, obwohl eine Szene im damaligen Kultfilm Easy Rider mit einem Ausschnitt aus seiner Messe unterlegt war. Axelrods künstlerisches Wagnis war offensichtlich zu gross, insbesondere in einer Zeit, welche durch keinerlei Affinitäten zur katholischen Kirche und zum Christentum allgemein auffiel. Die Publikumsreaktion war Unverständnis, Desinteresse, im besten Fall war es Erstaunen, Perplexität, Sprachlosigkeit.
David Axelrod blieb sich aber selbst treu. Mit seiner erneut von ihm komponierten Release of an Oath liess er 1968 mit einer neuen Formation der Electric Prunes ein weiteres religiös inspiriertes Werk folgen, das auf dem jüdischen Kol Nidre baut. Die Chorgesänge, die Instrumentierung und das allgemeine Klangbild sind in der Tradition der Mass in F Minor gehalten. Und weitere kreative Werke aus seiner Feder sollten bald folgen: David Axelrod wandte sich nämlich etwas später gerade mit zwei Aufnahmen der Vertonung von Gedichten des englischen Romantikes William Blake zu.
Doch zuerst soll Ceremony, die Messe der Spooky Tooth aus dem Jahre 1969, angehört werden. Sie gehört eng zur Mass in F Minor, und sie ist dennoch ganz unterschiedlich gestaltet. Beiden Werken gemeinsam ist, dass sie gleichsam unter der Oberaufsicht eines musikalischen Direktors entstanden. War es bei den Electric Prunes David Axelrod, so prägte bei Ceremony der französische konkrete Musiker Pierre Henry (1927-2017) das religiöse Opus der Spooky Tooth. Und beiden Werken gemeinsam ist ferner, dass auch die Spooky Band nach der Aufnahme ihrer Liturgie auseinander fiel (um sich danach allerdings zu erholen und in neuer Besetzung wieder kreativ zu werden) - hier wie dort offensichtlich ein künstlerischer Kraftakt am Wirken war, der die Kräfte sprengte, der die Künstler überforderte.
Anders als die Mass in F Minor setzt Ceremony allerdings sehr gute Nerven voraus. Bereits der Umschlag gibt zu verstehen, dass mit diesem Werk eine Dauerschockbehandlung bevorsteht. Er wurde vom renommierten englischen Künstler John Holmes (1935-2011) gestaltet, der neben zahlreichen anderen Arbeiten auch die Buchumschläge von Vladimir Nabokovs Despair und Germaine Greers The Female Eunuch schuf. Holmes Illustration ist unbetitelt, kann aber nur als Darstellung der Kreuzigung Christi verstanden werden. Die Aussenseite des Umschlages zeigt einen von Schmerzen gequälten Kopf zeigt, auf dem mit einem Beil eine Hand eingenagelt wird.

Auf der Innenseite des aufklappbaren Umschlages erblicken wir dann den Körper des gekreuzigten Jesus Christus.

Ceremony mutet uns viel zu, sehr viel, so viel, dass es kaum verdaubar bist. Verantwortlich dafür, Schuld daran, war Pierre Henry, der die fertige Aufnahme mit konkreten Geräuschen anreicherte, wohl besser zu sagen wäre: sie übersättigte, sie verdarb, sie ungeniessbar machte. Mit Schockgeräuschen setzt bereits das einleitende „Have Mercy“ ein; in „Jubilation“ ist danach während fünf Minuten ein unverändert gleiches menschliches Stammeln zu hören; „Confession“ macht dann das überlaute Geräusch des besagten Hammers zum ohrenbetäubenden Missklang, zur schmerzvollen Kakophonie.
Pierre Henrys bizarre Geräusche durchziehen das Werk von Anbeginn bis ans Ende. Dabei sind die Vertonungen der einzelnen Teile der Liturgie durch Gary Wright (1943-2023), den talentierten Songschreiber der Truppe, ganz im vertrauten Idiom seiner Kunst bzw. seiner Band gehalten, und sie hören sich inspiriert und kreativ an. Doch eben: Pierre Henrys Zutaten machten seine Kompositionen ungeniessbar. Das subtile „Prayer“ beispielsweise, Wrights Version des Vater Unser, wird in der Verschandelung von Pierre Henry zum klanglichen Schwerstunfalls. Was sich der Franzmann dabei gedacht hat, muss sein Geheimnis bleiben.
Anregungen, das Werk von seinem Unrat zu befreien, zu säubern, was technisch problemlos gewesen wäre, sind leider ungehört geblieben, sicher auch weil die Verkaufszahlen so oder so tief geblieben wären: Ceremony bleibt, wie die Mass in F Minor, ein Curiosum, sogar ein Curiosissimum.
Und zu David Axelrod und seiner Begleitcombo gibt es in der Geschichte von Ceremony eine weitere auffallende Parallele: Axelrod verfolgte seinen spirituellen Weg mit der Vertonung von William Blake weiter; der Komponist Gary Wright suchte seine Bestimmung im Hinduismus, dem er bis ans Ende seines Lebens treu blieb, und von dem sein umfangreiches und vielfältiges musikalisches Schaffen geprägt ist. Nachzulesen ist all dies in seiner interessanten Autobiographie The Dream Waver (Jeremy P. Tarcher/Penguin, New York 2014).
Dass sich David Axelrod schliesslich William Blake zuwandte, fügt sich nahtlos an sein vorangegangenes musikalisches Wirken. Die Romantik, die deutsche und die englische ebenso, war von der künstlerischen Gesamtschau der Synaesthesie geprägt: Bild war Klang, sehen war hören, das Taktile, Visuelle und Auditive ergänzen, vermengen und vermischen sich und gehen ineinander über. Die Grenzen verwischen. William Blake, selber Dichter und Maler, setzte jedem Gedicht in seinen beiden Sammlungen aus dem Jahr 1789 eine Illustration voraus, die den Inhalt der einzelnen Poeme erhellte. Und David Axelrod hat es verstanden, William Blake in seinen gleichnamigen Werken Songs of Innocence (1968) und Songs of Experience (1969) rund zweihundert Jahre danach auch musikalisch reich umzusetzen. Während Axelrod auf Experience acht der insgesamt sechsundzwanzig Gedichte aus Blakes Sammlung vertont, basieren auf Innocence nur zwei seiner Stücke (Holy Thursday, A Dream) auf dem gleichnamigen Zyklus des englischen Romantikers, dort bestehend aus dreiundzwanzig Gedichten. In weiteren fünf Kompostionen wird Blakes Gedichtsammlung Axelrod zur freien Inspirationsquelle.
Verfolgt man die Rezeption der beiden Werke zur Zeit ihres Erscheinens Ende der 1960er Jahre, so stellt man leicht fest, dass es ihnen wie der Mass in F Minor vor ihnen erging: Sie wurden kontrovers, meist abwertend, diskutiert, und sie verkauften sich nicht gut. Indes: Wie die vertonte Liturgie sind sie im Verlaufe der Jahrzehnte wiederholt neu entdeckt, wiederveröffentlicht und dabei zunehmend wohlwollend gewürdigt worden.
Eine mögliche Erklärung dafür mag sein, dass in der überreichen Kreativität der Sechzigerjahre auch grosse Leistungen nicht immer die volle, verdiente Beachtung erhielten. Axelrods Werke eröffnen tatsächlich ungewohnte, phantasiereiche Klangwelten, deren unvoreingenommen frisches Konzept und regelfrei anmutende Instrumentierung nur in jener Epoche denkbar waren. Hört man die beiden Aufnahmen, so meint man ihre Entstehung gleichsam auf den Tag, Monat und das Jahr genau datieren zu können.
Und was bis heute in der Rezeption bedauerlicherweise keinerlei Würdigung gefunden hat, ist der Part eines hoch talentierten Musikers, des Schlagzeugers Earl Palmer. Sein leichtes Spiel, seine elegante Technik, filigranen Figuren und imposant wechselnden Tempi tragen Axelrods Kompositionen und sind das Salz in der Suppe. Earl Palmer (mit)interpretiert William Blakes Gedichte auf seinen Schlaginstrumenten. Der Engländer würde hier von einem „talking drum“ sprechen. Earl Palmer spielt auf nahezu unzähligen Aufnahmen, und er ist dennoch unverdienterweise ein Unbekannter geblieben. Er sei, RIP, Interessierten empfohlen.
H.M. Merlin 19. Juni 2025

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