Wer - aus Passion, sprachlicher Entdeckungsfreude, aus kulturellem Interesse - bis vor einigen Jahren in lateinischer Sprache mitteilen wollte, er sei, beispielsweise, mit dem Schnellzug nach Mailand und von dort mit dem Hochgeschwindigkeitszug frecciarossa weiter nach Rom gereist, habe dann am Bahnhof Roma Termini eine Fahrkarte für die Metro gekauft und sei schliesslich im Zentrum der caput mundi angekommen, musste eine hoch anspruchsvolle sprachliche Akrobatik in Kauf nehmen. Weder gab es, bekanntlich, in Roma Antica einen Schnellzug, geschweige denn einen frecciarossa, noch eine Fahrkarte für eine Metro. Die Mitteilung war somit nur mit innovativen Umschreibungen für die fehlenden Begriffe möglich. Wer aber die Aussage heute machen will, dem fehlen die Worte nicht mehr, auch wenn dies in der hoch anspruchsvollen Sprache Latein eine grosse geistige Herausforderung bleibt.
Das „Lexicon recentis latinitatis“, erstellt im Auftrag der „Libraria Editoria Vaticana“ von sieben Spezialisten aus dem Vatikan in vierzehn Jahren, erschien zum ersten Mal im Jahre 1992 in italienisch-lateinischer Version. Es enthält auch rund 15’000 von den Herausgebern erarbeitete Stichwörter aus den heutigen Bereichen der Wissenschaft, Technik, Medizin, Politik, des Sports - kurz: zu den verschiedensten Domänen unserer Zeit. Carolus Egger kommentiert dazu im lateinisch verfassten „Prooemium“, viele Worte aus der neuen Zeit seien hinzugekommen, seien aber nicht nachschlagbar („Praeterea multa verba nova, quae haec aetas induxit, eo non continebantur.“). Deswegen sei es die noble Pflicht, diese nachzutragen und zur Verfügung zu stellen („Est ergo nobilis propositum (…) multa verba nova congerere (…) quae quidem ad thesaurum Latinum pertinent, sed haud facile in communibus lexicis invenientur.“). Das Werk lässt selbst die Bereiche der Jugend-, der so genannten Szenen- und sogar der Vulgärsprache nicht aus, ist somit volksnah und spricht alle an. In Italien wurde das Lexikon ein Aufsehen erregender Erfolg. Die Sprache der „antenati“, ihre Denkweise, ihre Hochkultur, waren so gegenwärtig, so nahe gerückt, wie nie zuvor.
Die zahlreichen Neuschöpfungen sind auch ein grosses intellektuelles Vergnügen und nicht selten mit einer P/Brise feinen Humors gewürzt. Sie spiegeln den so einzigartig klaren und logischen Aufbau, der dem Lateinischen eignet, und sie vermitteln, über das einzelne Wort hinaus, auch tiefe kulturelle Einsichten und Erkenntnisse. Und, erstaunlich, in den meisten Fällen hört sich die lateinische Version gefälliger an als die gängige Deutsche - wer wollte der birota montana (Montainbike), dem purgamentorum vas (Mülleimer), der machina linteorum lavatoria (Waschmaschine) nicht den Vorzug geben ? Auch die Mitteilung eingangs liest sich angenehm - wir reisen mit dem hamaxostichus citissimus nach Rom, kaufen dort eine tessera vectoria und der hamaxostichus subterraneus nimmt uns mit in die Roma Antica, die wir jetzt so modern erleben wie nie zuvor.
Im Jahre 2002 erschien dann eine deutsch-lateinische Ausgabe des „Lexicon recentis latinitatis“. Diese ist leider nicht mehr leicht greifbar, ist aber noch als e-book (libellus electronicus) zu lesen. Die letztere, profane Version wird dem grossen Staunen bei der Lektüre wohl kaum gerecht. Deswegen folgen wir dem Rat der Dres. Roberto Carfagni* und Beat Jung, mithin zwei Gelehrten, die Lateinisch lesen und verstehen, und die in dieser Sprache auch noch denken und reden können. Somit dürfen wir mit Fug annehmen, dass ihr Rat, das kostbare Buch zu kaufen, wer es sieht, so nahe formuliert ist, wie er im antiken Rom wohl ausgesprochen worden wäre: Hunc librum pretiosissimum si forte videris, ilico emito!
H.S.-Merlin
8/11/2019
*Auf die aussergewöhnlichen Projekte in lateinischer Sprache von Dottore Roberto Carfagni in Montella nahe Neapel sei, prodesse et delectare, hingewiesen. Sie sind auch im Internet (quaesitio electronica) einsehbar: http://scholalatina.it/en/
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